Montag, 14. Oktober 2013

Rezension: Fieberglasträume

Cover: Fieberglasträume
Cyberpunk. Abgesehen von einem Album von Billy Idol handelt es sich hierbei ja um ein Sub-Genre der Science Fiction, welche in den frühen 1980er Jahren mit der Neuromancertrilogie von William Gibson begründet und weitestgehend hinsichtlich seiner Tropes formuliert worden ist.
Grundlage dieses speziellen Genres ist dabei eine nahe gelegene Zukunft, in der sich zumeist wenige Konzerne in einer liberalen Marktwirtschaft in Reinkultur die Welt untereinander aufgeteilt haben. Das in dieser Welt das Individuum von gesellschaftlicher Seite keine Rolle spielt, sollte jedem bewusst sein. Das besondere des Cyberpunk-Genres ist dabei dann allerdings, dass es gerade seinen Blick auf das Individuum in einer solchen distopischen Zukunft wirft und dabei eine entsprechende Spekulation über das gelingen oder auch Misslingen des entsprechenden Einzellebens unter solchen Bedingungen aufgreift.
Wichtig dabei sind, dass die tragenden Elemente für eine solche Beachtung (auch wenn sie sich seid den 80ern zum Teil sehr verändert haben) eine überhöhte Selbstdarstellung der Modifikation und Perfektion des eigenen Körpers auf Chrombasis mit beinhält. Zusätzlich gehört auch noch die zweite Realität des Cyberspace ebenfalls von Anfang an dazu, welche von den damaligen Vorstellungen tatsächlich nicht nur die Idee einer Subkultur, sondern vielmehr einer zweiten, wahrnehmbaren Realität, die parallel zur wirklichen Welt existiert, darstellt.
Das alles wird dabei von dem Konzept des Anti-Helden getragen, der innerhalb einer graustufigen Welt die Wahl zwischen Pest und Cholera hat, um sein überleben zu sichern. Spätestens seit Mitte der 90er gilt gerade deswegen das komplette Konzept des Cyberpunks als Tod, da die während der 80er noch unvorstellbare Grausamkeit aus Ängsten und Chancenlosigkeit längst zur alltäglichen Realität geworden ist. Der Cyberspace ist das Internet eines SecondLives geworden. Und die Cyberdecks rauben in Armbanduhrenform zu tausenden im Bus einem den letzten Nerv, während sie Beethovens 9te Spielen, um Aufmerksamkeit ihres jeweiligen Controllers zu erlangen.

Fieberglasträume ist eine Kurzgeschichtensammlung von 2013, die Frank Hebben und Adre Skora herausgebracht haben, welche trotz dieser ganzen Bedingungen genau dieses Genre aufgreift und insgesamt fünfzehn Autoren versammelt, die ihre jeweilige Version dazu beitragen.

Gehen wir erstmal den optischen Aspekt an: Das Cover von Cristoph Jaszczuk zeigt eine Nackte vercyberte Frau, deren obere Kopfhälfte scheinbar gegen einen Cyberhelm ausgetauscht wurde, welche sich in kniender Haltung holographische Bildschirme überwacht. Unterhaltsam ist dabei der Rücken der Frau, da hier scheinbar die Informationen, die sonst durch die Rückenwirbel laufen, hier via Funkenschlag über einzelne Dioden wie bei einem Tessler-Generator übertragen werden. Das alles befindet sich auf einem Hintergrund mit verschiedenen, orangefarbenen Schattierungen. Die Nacktheit dieser Figur dürfte zwar – dank optischer HBO-Verseuchung – nur noch wenige Leute wirklich verstören, ist aber durchaus für das Genre des Cyberpunks immer noch auf gesonderte Weise ziemlich wichtig. (Hieran erkennt man wieder einmal die Instrumentalität, die letzten Endes alles innerhalb des Cyberpunk-Genres haben kann.)
Zusätzlich dazu sind nochmal weitere fünfzehn Illustrationen im Buch enthalten, welche stilistisch zwischen Graffiti-Comic und modernem Comicstil sich bewegen. Geschmacklich dürfte sich also um diese jeweiligen Farbtafeln am meisten gestritten werden.

Gehen wir jetzt also weg von den optischen Spielereien und wenden uns dem eigentlichen Inhalt zu, den einzelnen Geschichten, die sich auf insgesamt 336 Seiten ausweiten.

Peter Hohmanns „Back to Basics“ ist das, was der Titel verspricht: Eine klassische Geschichte, welche um einen Konzernagenten dreht, der kurz vor Neujahr im Auftrag seines Chefs zum Babysitten abkommandiert wird. Kernthema dabei ist die übliche soziale Vereinsamung und der Widerspruch zwischen Onlinern und Offlinern.

Sven Köpplings „Kabelgott“ hat dabei als Thema die Welten der Onliner. Wobei hierbei weniger das offensichtliche Thema des Lebens in einem „Second Live“ das tragende Element ist, sondern mehr der Umgang mit den AGBs, die mittlerweile mit jedem Service im Internet verbunden sind. Die prägende Idee, die hierbei den Plot ausmacht ist dabei ein äußerst interessantes Spiel mit der Moral, die entspringt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes seine Seele ohne mit der Wimper zu zucken verkauft. Allerdings liegt innerhalb des Plots gerade dabei aber auch das Problem mit dieser Geschichte verbunden: Der Sense of Wonder wird arg überstrapaziert, wenn die virtuelle Handlung aus der Interaktion mit den AGBs zu realen Folgen in der (fiktiven) tatsächlichen Welt führt.

Jens Ulrichs „Das Netzwerk“ greift die Idee der sozialen Vereinsamung innerhalb des Cyberpunkgenres auf und spielt damit, wenn es doch zur unberechenbaren Komponente der zwischenmenschlichen Beziehung kommen sollte.

Niklas Peineckes „Animatoo“ ist ein Spiel mit der Idee der beweglichen Bilder auf menschlicher Haut. In gewisser Weise wird hierbei eher sarkastisch mit der Idee gespielt, dass bewegte Bilder den Verstand umnebeln. Aber auch die alte, konservative Weisheit „Was nichts kostet, taugt auch nichts“ anders wiederbelebt. Ähnlich wie bei Kabelgott werden hier noch einmal die Alpträume neuer Technologien dargestellt, welche auch neue Gefahren offenbaren.

Andre Wieslers „Shogun und Sparkle-Schoko“ ist nocheinmal eine Reminiszenz an die Willkür mit der sich Teams innerhalb des Genres Cyberpunk bilden können. Jeder Grund ist meistens genausogut wie der Andere, aber meistens sind die Motive auf einige, wenige Grundsätze zu reduzieren: Geld, Überleben oder Rache.

Thorsten Küper greift in „Dementers Garden“ das vermutlich erfrischenste Konzept auf, um eine ziemlich coole Geschichte zu eröffnen: Man nehme die schlimmsten, morallosesten Wissenschaftler, sperre sie in ein einziges Laboratorium ein, aus dem sie niemals entkommen können und schaue was sie dabei anstellen. Das hierbei gerade Waffen entstehen, die am Ende dazu neigen sich zu verselbstständigen, sollte jedem bewusst sein. Genauso wie jedem bewusst sein sollte, was passiert, wenn solche Waffen in den bewussten Umlauf gebracht werden. Alles der Quote wegen.

In das „Gesetz der Zone“ beschreibt Michael Rösner einen kurzen Augenblick, in dem jemand von ganz Unten die Chance hat Rache nehmen zu können, an jemandem, der ganz Oben auf der Spitze der Konzernleitung hockt. Und wie dann trotzdem, Genre-Typisch, alles in die Binsen geht.

Frank Hebben und Christian Günther haben sich mit den beiden „Zeit der Asche“ Geschichten zusammengetan und beschreiben mit #Rheingold und #Hanse einen künstlich von einer Zitadelle heraufbeschworenen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Parteien aus genetisch degenerierten Wesen in einer postapokalyptischen Zukunft. Diese beiden Geschichten sind vermutlich die Highlights dieses Bandes, weil sie einen sehr eigensinnigen Weg gehen. Das ganze wird durch eine abgehackte Erzählweise unterstrichen, in der jeder einzelne Satz für sich selbst betrachtet eine Art kurze Momentaufnahme ist. Als wäre die Aufmerksamkeit der jeweiligen „Protagonisten“ nur für Sekundenbruchteile jeweils vorhanden und würde daher nur die jeweilige Impression des Momentes wiedergeben.

„Mindswitch“ von Frank Werschke würde ich am ehesten als technologiebasierte Zombiecalypse-Geschichte umschreiben. Hierbei wird wieder einmal der kleine Hacker zum Opfer der Großen, weil er sich aufgrund seiner eigenen Arbeit als zu gefährlich für die Großen erwiesen hat, um am Leben zu bleiben, aber sein Verstand insgesamt zu ersetzbar ist, um ihn gerade eben nicht umzubringen. (Wie gesagt: Das Individuum in einer Cyberpunk-Gesellschaft spielt keine Rolle.)

Jan-Tobias Kitzel umschreibt in "Saints Glory die Notwendigkeiten von Brot und Spielen, welche seit den Römern bekannt sind. Das Cyberpunk-Genre lebt davon, dass gerade in seinen Welten die Stars der jeweiligen Zeit in absolut blutigen, illegalen Kämpfen geboren werden um Medienwirksam genutzt zu werden.

Peer Bieber bricht mit allen Traditionen in „Die drei Tage des Hiob“. Hier geht es eher um die Apokalypse der Gesellschaft, die sich auf bestimmten Fundamenten gebildet hat, indem mit nur einem einzigen, kleinem Detail wie einem Code alles umgestürzt wird. Und zeitgleich nutzt Bieber dabei verschiedene Ideen, die man eher der transhumanistischen Literatur zuordnen würden, wenn auch nur mit angedeuteten Versatzstücken.

Ingo Schulze feiert mit „Grenzkinder“ sein Debüt in diesem Buch. (Zumindest soweit man den Autorenbeschreibungen trauen darf.) Sein Plot ist der eines einsamen Schützen, der sich nach Jahre langer Vorbereitung schließlich auf den einsamen Fahrt der Rache begibt um eine alte Schuld zu sühnen. Das alles zwischen Rockerkriegen und dem Traum des ewigen Heavymetal-Festivals.

Bei David Grashoffs KALI fragt man sich beim Lesen hingegen, ob der Autor – so sehr ich seine Art Geschichten zu erzählen mag – wirklich in diesem Band gut aufgehoben ist. Grashoff verzichtet weitestgehend auf eine überproportionierte Darstellung von Technik, bis diese, subjektiv betrachtet, vollständig in den thematischen Hintergrund tritt und beschreibt eher eine einzelne Szene, die den direkten Augenblick der Rache eines Individuums darstellt, das gegen eine obskure Sekte vorgeht. Man bemerkt hierbei durchaus stark, dass es sich um die Geschichte eines Autoren handelt, der – zumindest mir – bislang eher im „Grusel und Horror“-Genre mit ernsteren Texten bekannt war. Das er darüber hinaus auch lustig kann spielt hierbei ja keine Rolle.

Michael K. Iwoleit beschäftigt sich in „Der Sturz“ schließlich mit den anderen Persönlichkeiten des Cyberpunk-Genres, wenn auch wieder eher im tranhumanistischem Sinne, möchte man meinen: Es geht um die KIs. Transhumanistisch möchte ich die Geschichte insoweit bezeichnen, weil die künstlichen Intelligenzen innerhalb dieser Geschichte als eigene Kultur beschrieben werden, welche erstmals mit den Menschen als ihren ursprünglichen Schöpfern in Kontakt tritt um ein Beisammenleben zu verhandeln. Die Geschichte beschreibt den mühsamen Weg des Botschafters dieser KI-Kultur, wie er nach einem Treppensturz eben diese wieder hinaufkrabbelt und die einzelnen Erinnerungen, welche über seine Gliedmaßen fragmentarisch verteilt sind, wieder zusammenklaubt, während er seinen eigenen Avatarkörper Stück für Stück Symbolhaft wieder zusammensetzt. Durchaus eine sehr schöne Geschichte mit einem fiesen Plott der Marke „Ich-weiß-das-du-weißt-das-ich-weiß“.

Fazit

Grundsätzlich muss man wohl die Problematik des Cyberpunk-Genres weiterhin offen halten: Wir erleben des Cyberpunk in seiner schlimmsten Variante mit all seinen Tropes gerade selber. Uns fehlt zwar der blitzende Chrom, aber dafür hantieren wir mit anderen Dingen herum, die diesen nicht minder ersetzen. Macht es also Sinn Geschichten in diesem Genre zu verfassen? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten.
Fieberglasträume erfindet in diesem Bereich sicherlich nicht das Rad neu und hier werden in den einzelnen Positionen nur bedingt gewisse Spekulationen zu unserem Leben in der technologisierten Welt beschrieben. Unterhalten kann der Band mit seinem Spiel der bereits bekannten Tropes natürlich trotzdem.
Womit wir dann natürlich beim zentralsten Problem eines solchen Bandes angekommen sind: Eine Kurzgeschichtensammlung wie diese, welche verschiedene Autoren unter einem Banner vereint ist immer von durchwachsener Qualität verbunden. Das stellt man natürlich auch bei Fieberglasträume erneut fest. Die einen Autoren schreiben direkt nur zur reinen Unterhaltung. Andere experimentieren mit Sprache herum und versuchen auf diese Weise für den Leser eine besondere Erfahrung zu verschaffen. Und wiederum andere machen sich wirklich Gedanken, wie man eventuell doch noch dem ganzen etwas neues abgewinnen kann. Das macht den Band nicht schlecht, sorgt aber natürlich dafür, dass niemand vollständig zufrieden mit dem Gesamtwerk sein wird. (Und ich weiß, dass gerade ich im Science Fiction-Bereich mittlerweile ein ziemlich mäkeliger Leser geworden bin.) Man muss diesen Band also solche Sammelbände immer als Einladung begreifen: Lerne verschiedene Autoren kennen und halte nach denen, die dir besonders gefallen haben, anschließend die Augen offen.
Unter diesem Blickwinkel betrachtet lohnt sich gerade Fieberglasträume besonders, weil man hier einige sehr interessante, nicht aus einem Guss wirkende Positionen vorfindet, die sich jeweils sehr stark unterscheiden und voneinander abheben. Daher kann ich zumindest für meinen Teil nicht sagen: Das ist absolut gut oder absolut schlecht. Es entspricht den Erwartungen und bietet auf jeden Fall einige gute Anregungen für die weitere Lektüresuche. (So die entsprechenden Autoren denn anderweitig auch noch veröffentlicht haben, was ja gerade bei Ingo Schulze eher schwierig ist, der sich ansonsten ja nur im Rollenspielsektor bislang herumgetummelt hat.)

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